Der Urlaub

“Kinder, wir fahren in den Urlaub”, erklärte Vater feierlich.

Kurz bevor er zum letzten Mal seinen Job verlieren würde, hatte er
noch einen Peugeot 106 gekauft. Vier Sitze, zwei Türen, die Leistung
mehrerer Pferde, und in der Mittelkonsole ein Aschenbecher, dessen
Fassungsvermögen meine Eltern regelmäßig ausreizten. Sein ganzer Stolz.

Und so fanden meine Schwester und ich, ich war wohl so sieben oder
acht, uns auf der Rückbank, zwischen uns ein Koffer, unter meinen Füßen
eine Tasche, der Kofferraum voll, an einem brüllend heißen
Pfingstwochenende mit Brückentag auf dem Weg nach Holland.

“Lass die Finger weg vom Fenster sonst klatscht es!”, schrie mein
Vater nach hinten. “Das zieht mir im Nacken!” Eine Kippe nach der
anderen, die Hitze kaum zu ertragen, und ich mit dem billigen
Fake-Gameboy, der nur Tetris spielen konnte, und neben mir die Schwester
mit dem echten Gameboy. Der Vater immer kurz vorm Explodieren, die
Mutter still und duckmäuserisch, alibimäßig eine Karte haltend die sie
sicher nicht hat lesen können. Aber das war okay, denn Vater kannte
jeden Weg.

Aus dem Kassettenspieler brüllte Tom Astor, ein Musiker aus dem zu
recht vergessenen Genre der deutschen Lastkraftwagenfahrermusik, die
versuchte, die Magie der amerikanischen Truckerkultur auf Deutschlands
ordentliche und gemäßigte Autobahnen zu übertragen. Aber Vater bildete
sich ein zu einer Kultur zu gehören, von der ich bis heute nicht sicher
bin, dass sie existierte, und so waren wir alle gezwungen, Lieder zu
hören, in denen es um vergessene Teddies an Autobahnraststätten,
Sekundenschlaf, die Einsamkeit auf der Straße und CB-Funk ging.

Auf dem Weg fragt uns Vater nach jedem Nummernschild, wofür steht D,
und wofür steht KR, und wofür steht RE, und meine Schwester und ich,
Grundschüler, die Köln nie verlassen hatten, können nicht antworten und
mit jedem falschen Versuch und jedem “weiß ich nicht” wird Vater
gereizter. Irgendwann explodiert er, weil Mutter eine Raststätte, an der
die beiden wohl schonmal gehalten hatten, nicht erkennt. Die Autobahn
ist seine Domäne, und dass seine Familie darüber weniger weiß als er,
kann er nicht verstehen.

Irgendwann werden die Nummernschilder zunehmend gelber, und die
Tiraden richten sich nicht mehr gegen uns, sondern gegen die
holländischen Autofahrer, lernen die denn nichts in der Fahrschule, und
welche Schwuchtel hat denn diese Kreisverkehre erfunden, was spricht
denn gegen eine Ampel. Anstatt mich am Charme der Raps- und
Tulpenfelder, Grachten und Windmühlen zu erfreuen schaue ich auf Vaters
roten Nacken, dessen Speckwülste sich unter der Kopflehne nach hinten
durchpressen, und hasse mein Leben.

Dann erreichen wir den Campingplatz, kommen an einer Schranke an, ich
bin erleichtert endlich aussteigen zu können, und auch Mutter will die
Autotür öffnen, aber Vater schreit, ihr bleibt jetzt sitzen, bis ich den
Platzwart gefunden habe, es geht gleich weiter. Und Mutter schließt die
Tür wieder, aber wenigstens kann ich das Fenster öffnen.

Wir Kinder finden das Mobilheim super, und unser winziges Zimmer mit
den noch viel winzigeren Betten erst recht. Und auch den Rest des
Campingplatzes finden wir toll. Überall fahren Heranwachsende auf Rädern herum,
es gibt ein kleines Fußballfeld, eine Gracht die das Areal natürlich
begrenzt, und einen kleinen See, auf dem Jugendliche auf
Surfbrettern paddeln oder vereinzelt auf Motorbooten rumdüsen. Also
gehen wir schwimmen, erkunden, lernen Kinder aus weit entfernten,
exotischen Orten wie Krefeld oder Recklinghausen kennen, und kehren erst
zum Bungalow zurück, als dichte Schwärme von Mücken die nicht stechen
um die Straßenlaternen herumschwirren.

Selbst die Eltern, die offensichtlich den ganzen Tag das Mobilheim
nicht verlassen hatten, und Mutter, die wohl gerade noch geweint hatte,
und auch nicht das karge Abendbrot, bestehend aus Toast mit Salami,
können unsere gute Laune ruinieren und als wir dann endlich im Bett
liegen, und kurz bevor meine Augen zufallen, zeigt meine Schwester mir
noch, dass sie irgendwoher eine Hand voll holländischer Gulden hat, und
verspricht, mich am nächsten Tag zu einer Pommes einzuladen.

Kurz nach unserer Rückkehr in die Kölner Platte verlor Vater dann
seinen Job, und somit begann die Zeit, in der er richtig unangenehm
wurde.


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Kommentare

7 Antworten zu „Der Urlaub“

  1. Avatar von Anonym
    Anonym

    > Lastkraftwagenfahrermusik

    klingt wirklich grauenhaft!

  2. Avatar von Anonym
    Anonym

    > und somit begann die Zeit, in der er richtig unangenehm wurde.

    Warte, das Verhalten in diesem Urlaub war noch der angenehme Part?

  3. Avatar von Anonym
    Anonym

    Ich liebe es, bitte hör nie auf. Kann man dir eigentlich irgendwo was "spenden"?

  4. Avatar von Anonym
    Anonym

    ich habe dich vor ca. nem halben jahr auf reddit gefunden. bitte höre niemals auf zu schreiben ♥️

  5. Avatar von Anonym
    Anonym

    Ich freue mich so, dass ich deinen Blog wiedergefunden habe. Hatte deine Beiträge bei Reddit gelesen und mich dann gewundert, dass nichts mehr kam und habe gerade entdeckt, dass ich mir schlauerweise wohl ein Lesezeichen im Browser zu deinem Blog gesetzt hatte. Habe gerade alle Beiträge gelesen, die ich so verpasst habe und freue mich schon auf die kommenden.

  6. Avatar von Anyonsm
    Anyonsm

    Danke für deine Beiträge, du hast einen unglaublich guten Stil zu schreiben!

  7. Avatar von Assi Toni
    Assi Toni

    Das war wohl der letzte glückliche Tag in seinem Leben…

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