Kindskopf

“Sei nicht langweilig!” schrieb sie in ihrem Tinder-Profil. Trotzdem hab ich es “geliked”.

Sie war spontaner als ich, und viel verrückter, und jünger, kannte
jeden und lebte im Moment. Trotzdem klappte es irgendwie. Das erste
Treffen war wenige Stunden nach dem Tinder Match. Sie fragte nach meiner
Nummer, und ohne Ankündigung kam ein Videoanruf. Was zur Hölle. Sie saß
offensichtlich in einer Unterführung auf dem Boden, Kippe in einer
Hand, das Handy in der anderen. Endlos elegant und unfassbar
unbeschwert. Ach ja, habe ich wohl Lust, zu einem Konzert zu gehen,
“gleich”, so richtig spontan?

Sei nicht langweilig, dachte ich mir, und sagte zu. Sie war impulsiv,
lachte laut und häufig, sang jedes Lied laut mit, selbst wenn sie nur
eine grobe Idee vom Text hatte und bewegte sich so leicht, sorglos,
natürlich.

Einmal lagen wir nach einem Konzert auf ihrem Sofa, Kopf an Fuß,
redeten die Nacht weg, bis wir die Vögel hörten. Längst hatte ich
beschlossen, den gelben Schein einzureichen, um noch etwas länger den
irren Geschichten zuzuhören – und Vitalogy auf Repeat. Einmal pennte sie
weg, weckte sich selbst mit einem lauten Schnarchen, und redete weiter.

Daneben ich, blau, breit und zufrieden.

Von solchen Nächten hatten wir einige, bis sie dann irgendwann die
Frage stellte, die mich schon so manche Beziehung gekostet hatte.
“Willst du eigentlich mal Kinder haben?”

Nein, nicht wirklich, du? Ja und möglichst bald. Und von jetzt auf
gleich schwebt das Damoklesschwert aus Scheiße über jedem Treffen. Wir
daten noch eine Weile, jede Begegnung etwas weniger unbeschwert als die
letzte. Sie sucht nebenbei nach einer Beziehung mit Zukunft und ich
suche das Weite.

Etwas Zeit vergeht, vielleicht ein Jahr. Dann sehe ich sie wieder.
Ein Café in der Unteren, sie sitzt draußen, ein Typ hält ihre Hand.
Leicht übergewichtig, rosa Polo-Shirt, Armbanduhr, fliehendes blondes
Haar, Schweinsgesicht. Und daneben sie, mit ihren verrückten blauen
Augen, und den tätowierten Armen, leicht und so mühelos reizend.

Fuck, denke ich mir nur, wie ist das passiert? Hoffentlich sieht sie
mich nicht. Doch sie ruft laut “Stefan!”, und ich lasse mich zum
Hinsetzen überreden. Sie stellt mir den Schweinemann vor, den ich aus
purer Eifersucht so abschätzend behandle, und der sicher ein netter Typ
ist, aber Gott der ist Bankkaufmann, als hätte ich es geahnt. Aber er
hat die Frau und die stabile Karriere, kann ihr das Haus und die Kinder
geben und den Skoda Kombi.

Daneben ich, derselbe Kindskopf wie ich es vor zehn Jahren war, und in zehn Jahren sein werde.

“Okay, ich muss jetzt los, hab noch eine Verabredung”, lüge ich, und gehe nach Hause, unzufrieden und unfähig, das zu ändern.


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Kommentare

Eine Antwort zu „Kindskopf“

  1. Avatar von Anonym
    Anonym

    Du schreibt einfach klasse. Bin in diese Story versunken und habe nach minutenlangem Nachdenken über diese Geschichte gemerkt, dass ich gerade an einem Tisch mit Menschen sitze, die gerne mit mir interagieren möchten.

    Bitte hör nicht damit auf!

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