Mit 18 Jahren habe ich sehr viel Zeit unterirdisch
verbracht.
Nach einem deutlich unterdurchschnittlichen
Hauptschulabschluss hatte ich keinen Ausbildungsplatz gefunden und ein ganzes
Jahr in Abhängigkeit vom Jobcenter verbracht.
Mein sehnlichster Wunsch zu der Zeit war, das Elternhaus zu
verlassen, und so musste unbedingt ein Job her. Nach unzähligen Bewerbungen war
er gefunden: eine auf ein Jahr befristete Stelle im Lager eines Reiseveranstalters.
Beim Bewerbungsgespräch mit Frau Specht, einer ulkig
aussehenden Reiseverkäuferin, die nebenbei wohl auch Personalsachen macht,
erfahre ich: ich bekomme etwa 800 € netto für einen Vollzeitjob. Viel war das
schon damals nicht, aber es reichte, um ein winziges Kellerapartment zu
bezahlen und sogar etwas Geld für den Führerschein zur Seite zu legen. Dass jemand
mit so einem Gehalt und einer befristeten Stelle eine Wohnung in einer
deutschen Millionenstadt bekommt, wäre heute wohl undenkbar.
Mein Job wird im Keller unter den Büroräumen des Reiseveranstalters
verrichtet. Um zur Kellertreppe zu kommen, muss ich das halbe Büro durchqueren.
Die Reisevermittlerinnen grüßen anfangs noch zurück, als sich herumspricht, wer
ich bin und wo ich arbeite, hört diese Höflichkeit schnell auf.
Die Arbeit ist perfekt für mich. Nicht sonderlich anspruchsvoll,
weder körperlich noch mental groß anstrengend, im kühlen Keller. Der uralte
Lagerist, Peter, ist freundlich, verzeiht so manches Ungeschick und manchen Unsinn
und ist sichtlich darum bemüht, mir den Job beizubringen. Einmal pro Woche werden
Prospekte, Kataloge und Inserts geliefert und müssen aus dem LKW ins Lager gebracht
werden, den Rest der Woche verbringen wir damit, jene an die richtigen Kunden
zu versenden. Entweder verpacke und sortiere ich die Post und laufe dabei
durchs Lager, oder ich bediene im Sitzen eine Portomaschine. Wahrlich, keine
große Herausforderung, aber der Job gibt mir Struktur und Unabhängigkeit von
den Eltern und so komme ich jeden Tag gerne zur Arbeit.
Über uns, im Büro, brodelt es häufig. Die auszubildenden
Büro- oder Touristikkaufrauen kommen fast täglich zum Weinen in den Keller und Peter
heitert sie mit großväterlichen Witzen und guten Zusprüchen auf. Ich höre den
Geschichten zu, von Mobbing und Tabellenkalkulationen, von gemeinen Sprüchen
über Übergewicht oder Akne oder schlechte Kleidung, über Expedientenrabatte die
zwar die Nichte der Chefin bekommt, nicht aber die anderen Auszubildenen, über
das gestrige TV-Programm und über alkoholbedingte Ausschreitungen bei der Weihnachtsfeier.
Einmal kommt Frau Specht runter und weint sich bei Peter aus. Ihr wurde gesagt,
dass ihr Gesicht nicht mehr für den Katalog geeignet sei und sie als Einzige
nicht mehr ihr Reiseziel repräsentieren darf. Je mehr ich über die Bürowelt „da
oben“ erfahre, desto glücklicher bin ich im Keller.
Gerne würde ich sagen, dass ich meine Freizeit dazu nutze, mich weiterzubilden. Webdesign lernen vielleicht, oder Programmierung, oder einfach lesen, oder ein Instrument. Stattdessen hänge ich fast permanent am PC und zocken World of Warcraft. Damit hatte ich während meiner Arbeitslosigkeit angefangen und über Jahre nicht wieder aufhören können. Den Mangel an Fortschritt im eigenen Leben überdecke ich mit dem Erfahrungsbalken und die sofortigen, messbaren Erfolge binden mich so fest an das Spiel, dass ich über wenig anderes nachdenke. Welch verschwendete Zeit und Aufmerksamkeit…
Die Monate vergehen und ich freunde mich mit Dave an. Der
ist der einzige männliche Reiseverkäufer, bereits jenseits der 50, von
beeindruckender Enormität, sammelt hobbymäßig Abmahnungen und hängt häufig im Keller
rum, wenn es ihm oben zu stressig wird. Eines Morgens bin ich in einer Toilettenkabine
und Dave hämmert an die Tür. „Stefan, bist du da drin?! Beeil dich! Schnell!“
Ich will nicht gestört werden und sage nichts. Dave resigniert und motzt: „Dann
geh ich eben bei den Muschis scheißen!“
Später sitze ich am Lager-PC und lese eine E-Mail, die an
alle Frauen adressiert ist, aber auch an Funktionsbriefkästen wie Lager und
Zentrale. Wer auch immer das „Massaker“ auf dem Damenklo verursacht habe, möge
dies umgehend beseitigen, sonst würde die Chefin jemanden per Zufall bestimmen.
Eine knappe Stunde später läuft Frau Specht, weinend und mit hochrotem Kopf, einen
Eimer und einen Mopp tragend, durch den Keller zu den Toiletten. Ich empfinde tiefes
Mitleid mit der Dame und frage mich, was sie wohl falsch gemacht habe, außer
dass ihr Gesicht der Chefin nicht gefalle. Aber mir wird sehr deutlich, dass
Erfolg in diesem Betrieb sehr viel damit zu tun hat, wie gut man sich mit der
Chefin versteht.
Nach einem Jahr geht mein Vertrag zu Ende und wird nicht
erneuert, denn die Firma hat entschieden, die Aufgaben von den Büro-Azubis übernehmen
zu lassen. Das sei effizienter, und ich solle es nicht persönlich nehmen, und
Peter habe ja lobend von mir gesprochen, also würde mein Zeugnis positiv
ausfallen.
Während sich das Jahr dem Ende zuneigt, bewerbe ich mich weiter um Ausbildungen.
Der Job im Lebenslauf gibt mir etwas Selbstvertrauen, aber irgendwie reicht das
nicht, um über meinen schlechten Abschluss hinwegzutäuschen. Ich bewerbe mich auf
alle Lehrstellen, die ich finde: Lagerist, Elektriker, Bäcker, Schreiner, Maler,
Dreher, Schlosser… Keine Chance. Vielleicht, wenn ich meine Freizeit etwas produktiver genutzt hätte, als am PC Drachen und Kernriesen zu jagen?
Irgendwann lande ich wieder beim Amt. Dieses
erlaubt mir immerhin, meine Wohnung zu behalten, weil die Rückkehr ins
Elternhaus als unzumutbar eingestuft wird. Doch anstatt mir bei Bewerbungen um Lehrstellen zu helfen,
sehen die meine Zukunft als billiger Lohnsklave, in kurzfristigen
Beschäftigungen, in ausbeuterischen Werksverträgen, in permanenter und
entwürdigender Abhängigkeit.
Zu dem Zeitpunkt ahne ich noch nicht, dass so die nächsten
drei Jahre meines Lebens aussehen würden.
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