Moin,
ich komme aus der Unterschicht und habe mich lange von Mindestlohnjob zu ABM zu 1-Euro-Job zu Werksverträgen und welche Konstrukte, die die menschliche Arbeitskraft entwerten es noch so gibt, rumgehangelt. Meine Eltern, Schwester, Tanten und Cousins, fast alle leben wir an der Schwelle zur RTL2 Doku.
Viele andere Fernsehsender waren sogar wirklich schon in unserem Block.
Schule? Richtig verkackt.
Bau? Hab ich hinter mir.
Lager? Da fühle ich mich ganz wohl.
Staplerschein? Längst gemacht, nicht nur wegen der Frauen.
Plötzlich bin ich Mitte 20, halbes Jahr am Stück arbeitslos, „Kunde“ beim Jobcenter. Komme von einem deprimierenden Termin, bei dem ich mit meiner Beraterin über meinen Patchwork-Lebenslauf gesprochen habe, nach Hause. Freundin sitzt am Wohnzimmertisch (kompakter Neunflieser, Gelsenkirchner Spätbarock), alles stinkt nach Qualm, die Glotze läuft. Freundin bemerkt nicht, dass es mir schlecht geht und ich kann es nicht in Worte fassen. Plötzlich wird mir die Scham über meinen Lebenslauf, und mein Viertel, und meine Faulheit und Dummheit und Trägheit und meine Freundin, die mich eigentlich nicht leiden kann und immer raucht und selten duscht, und Familie und das Bittstellen beim Amt und einfach alles zu viel.
Am selben Tag fang ich an, Bewerbungen zu grinden. Viele. Zum Glück wohne ich in Kölle, es gibt tausende Jobs. Leider habe ich nur einen Hauptschulabschluss und lebe in Chorweiler, weshalb die Bewerbungen sicher meist ungelesen im Müll landen. Aber es klappt. Ich lande in einem Call Center. Im Outbound überlebt mein neu gefundener Ehrgeiz keine Woche, aber ich finde einen weiteren Job im Inbound, 50 km Radstrecke entfernt. Da kennt man auch Chorweiler nicht und so hat meine Bewerbung Erfolg. Beim neuen Job habe ich meinen Yoda-Moment: mein Chef nimmt sich meiner an. Sagt, ich solle doch bitte zur Abendrealschule. Solange ich das durchziehe, werde ich bezahlt, als hätte ich schon einen Abschluss. Damals immerhin zwei Euro mehr, let’s go!
Ich lerne eine neue Freundin kennen, die macht ein FSJ nach dem Abi. Will danach irgendwas mit Robotern studieren und ist viel klüger als ich. Aber irgendwas sieht sie in mir. Anfangs zocken wir zusammen, aber immer wieder manipuliert sie mich – auf die allerbeste Art und Weise. Wir schauen Scrubs zusammen, damals meine Lieblingsserie. „Das gucken wir jetzt nur noch auf Englisch zusammen“, sagt sie. Und ja, ich merke, dass es besser ist. Anfangs brauche ich Untertitel, streiche nach zwei Folgen die Segel. Aber es geht immer einfacher und macht immer mehr Spaß.
Während ich an der Abendrealschule binomische Formeln lerne, macht sie ihren B. Eng. in zwei Jahren. Sie zieht dann nach Zürich, für einen Master, irgendwas mit Robotern. Da bleibt sie dann auch. Ich bin traurig und sehr stolz auf sie. Sie hinterlässt mir ihren „Hitchhiker’s Guide to the Galaxy„, und immer wenn ich ihn wieder lese, bin ich dankbar, dass ich sie mal kannte.
Die Schule fällt mir nicht leicht, aber ich beiße mich so durch und schreibe gute Noten. Chorweiler liegt hinter mir, zumindest meistens. Manchmal besuche ich meine Schwester. Die macht sich über mein Einkommen lustig, ihr neuer Mann, der Elmar, verdient als Koch ja fast doppelt so viel, und sie ja auch, also mit Unterhalt und Kindergeld und allem, und sowieso, für so ein Geld würd sie ja nicht aufstehen.
Und der Vater, der pflichtet ihr bei und die Mutter, die schweigt nur und sieht traurig aus, und der Elmar, der einen richtigen Beruf hat, der kauft sich bald einen BMW, „und der ist sicher bequemer wie dein Fahrrad“, und alle lachen und alle rauchen, außer die Mutter, die ist anteilslos, und die Besuche werden seltener.
Irgendwann ist die Schule fertig. Mein Chef ist happy, jetzt könne ich ja mal über eine Teamleiter Position nachdenken. Wäre mein Leben ein Film, hätte ich den Hitchhiker’s Guide in der Brusttasche als ich zu ihm sage:
„Danke für alles, aber jetzt erstmal Abi“
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